Warum ist die Schulzeitverlängerung nötig?
Das letzte Jahr bestand für Schüler:innen aus Mailkontakt mit Lehrer:innen und Videokonferenzen, aus Wechselunterricht und selbstständigem Arbeiten, aus Notbetreuung mit Masken und Tests und aus Irgendwie-mit-der-Situation-klarkommen, aber vor allem aus sehr wenig Präsenzunterricht. Die deutschlandweit unterschiedlichen Konzepte, die regional variierende Ausstattung der Schulen und die individuell teilweise nicht vorhandenen technischen, familiären, räumlichen und persönlichen Möglichkeiten haben zu Ungerechtigkeiten geführt, für die der Staat Verantwortung übernehmen muss. Ein Jahr im Kinderzimmer wie auch ein Jahr mit ständigen Störungen im Schulablauf hinterlassen Spuren, die nur durch zusätzliche Zeit aufgefangen werden können. Zusätzliche Zeit, in der Pädagog:innen den Schüler:innen zuhören, sowie Raum für Entfaltung, sozialen Austausch und das stressfreie Aufholen verpassten Lernstoffs anbieten können.
Wir wenden durch diesen Schritt persönlich wie gesellschaftlich fatale Konsequenzen ab: Kinder, die in Heimarbeit nicht gut lesen und schreiben gelernt haben, werden keine Analphabet:innen, Schüler:innen am Ende der Grundschulzeit bekommen die Gelegenheit, angemessen auf die weiterführende Schulart vorbereitet zu werden, Jugendliche, die durch Corona abgehängt wurden, werden im besten Fall auf den allgemeinen Wissensstand gebracht und damit nicht zu Schulabbrecher:innen, Schüler:innen der höheren Klassen erreichen beim Abschluss den Notenschnitt, den sie für die Erfüllung ihrer Zukunftsträume benötigen.
Diese Maßnahme erspart uns also weitere Bildungsungerechtigkeit und wirkt den Krisenfolgeschäden entgegen, die entstünden, ließe man dieses unstete Jahr einfach als reguläres Schuljahr in die Biografie von über 8 Millionen Schüler:innen eingehen.
Woher kommt die Idee der Schulzeitverlängerung?
Im Zeit-Artikel „Geschenkte Zeit” von Anna Mayr vom 21. April 2021 stellt die Autorin das Konzept der Schulzeitverlängerung zur gesellschaftlichen Debatte, welches das verlorene Corona-Schuljahr kompensieren soll. Die Idee: „Man könnte das Schuljahr verlängern. Statt bis zum Sommer 2021 könnte es bis Dezember dauern. Wer also jetzt in der fünften Klasse ist, würde erst im Januar 2022 zum[:zur] Sechstklässler[:in], Erstklässler[:innen] kämen im Januar in die Schule. Das darauffolgende Schuljahr würde dann wieder um ein halbes Jahr verlängert, womit man im Sommer 2023 zurück im „normalen“ Rhythmus wäre, in dem die Sommerferien die Schuljahre trennen.“, so zitiert Mayr die Idee eines Berliner Schulleiters.
Was fordern die Jusos Sachsen?
Wir fordern, dass zum Ausgleich der coronabedingten Unterrichtsausfälle das Konzept der zweimaligen Schuljahresverlängerung zum nächstmöglichen Zeitpunkt umgesetzt wird, jedoch spätestens bis zum Schuljahr 2022/23. Die Schulzeitverlängerung sieht eine zweimalige Verlängerung des Schuljahres um jeweils ein halbes Jahr vor, um Schülerinnen und Schülern die Qualität und Quantität von Schulzeit zu ermöglichen, die ihnen zusteht.
Aus der Forderung nach mehr staatlicher Bildung spricht keine Bestrafung für zu schlechten Unterricht während einer Pandemie, sondern die Überzeugung, dass ein Jahr Schulbildung kostbar ist und nur mit Präsenzunterricht und echter Beschulung und Betreuung durch Pädagog:innen abgegolten werden darf. Wir müssen Schüler:innen die Zeit schenken, die sie durch fehlende Impfangebote, fehlende Luftfilteranlagen und Virus-Varianten verloren haben und verlieren werden. Kindern stehen mindestens 9 Jahre Schulbildung zu.
Ist es für das Modell nicht bereits zu spät?
Die Idee existiert bereits seit einigen Monaten, ist jedoch trotz des ZEIT-Artikels von Anna Mayr kaum gesellschaftlich diskutiert worden. Selbstverständlich kann das Modell in verschobener Form angewendet werden. Die Forderung zum jetzigen Zeitpunkt folgt einerseits daraus, dass von Seiten der Landesregierung bisher keine ausreichenden Lösungen angeboten wurden und andererseits weiterhin Einschränkungen für Schüler:innen zu erwarten sind.
Was soll in der zusätzlichen Zeit passieren?
In einer Doppelverlängerung um jeweils circa ein halbes Jahr sehen wir unter anderem die Chance, Projektzeiten für beispielsweise Wandertage, Ausflüge und Workshops anzulegen, um das soziale Miteinander wieder neu zu erlernen, aber auch Zeit für Nachhilfe, klassen- und fächerübergreifendes Lernen oder den Aufbau von Arbeitsgemeinschaften einzuräumen, um die Bildungsinhalte des Corona-Schuljahres nachzuholen. So ist es möglich, den Schüler:innen ihr Recht auf die Entwicklungen von Sozialkompetenzen und auf einen binnendifferenzierten Unterricht bei Über- oder Unterforderung, aber auch eine niedrigschwellige fachliche Betreuung und den Austausch im Klassenverband zurückzugeben. Zudem nimmt dieses zusätzliche Jahr ein wenig Stress aus der Schullaufbahn und bietet Schüler:innen einen Ausgleich für all die Versäumnisse, während Impfangebote für Minderjährige und pandemiegerechte Ausstattung der Klassenräume weiterhin auf sich warten lassen, obwohl das kommende Schuljahr bereits in den Startlöchern steht.
Was ist mit den Abschlussjahrgängen?
Die diesjährigen Abschlussjahrgänge sollten von der Verlängerung nicht mehr betroffen sein. Sie wurden im letzten Jahr priorisiert unterrichtet, haben ihre Abschlussprüfungen zum großen Teil nun hinter sich gebracht und die nächsten Schritte für den nachschulischen Lebensweg stehen für die Mehrheit wahrscheinlich fest oder sind sogar bereits eingeleitet. Etwas komplizierter gestaltet sich die Schulzeitverlängerung für die aktuellen Elftklässler:innen: Sie haben bereits Noten erbracht, die in die Abschlussbewertung einfließen. Für sie könnte eine Regelung greifen, die ihnen die Wahl ermöglicht, ob sie Noten aus dem Corona-Jahr annehmen, oder ablehnen und gegebenenfalls erneut erbringen möchten, so wie es an den Universitäten im letzten Jahr für Studierende Gang und Gäbe war. Wenn sie dann wie alle Schüler:innen das weggefallene Schuljahr nachholen, wären sie mit ihrem Abi 2023 dran und damit ein Jahr älter als die Jahrgänge vor ihnen. Doch auch das kennen wir schon aus Zeiten, in denen G8 noch nicht der Regelfall war.
Kann der Arbeitsmarkt auf neue Arbeitskräfte warten?
Da stellt man sich vielleicht die Frage: Erst 2023? Kann der Arbeitsmarkt denn noch ein Jahr länger auf seine Kräfte warten? Etwas mehr als die Hälfte der Abiturient:innen in Deutschland beginnt nach dem Erlangen der Hochschulzugangsberechtigung ein Studium, ist dem Arbeitsmarkt also ohnehin weitere Jahre nicht „verfügbar”, sondern bemüht sich um weitere Qualifizierung und Bildung. Die Wege im Studium sind so pluralistisch (Promotion, weitere Master, Zweitstudium, Auslandsdienste, Kinderplanung und viele weitere), dass mit beginnenden und abschließenden Jahrgängen nicht zu kalkulieren ist. In den Unis ist es ebenfalls zu Stau gekommen, sodass dieser sich in Ruhe auflösen kann, während 2022 kaum neue Studierende hinzukommen. Die Schüler:innen, die nach der Schule eine Ausbildung beginnen möchten, träfen derzeit auf zahlreiche Betriebe, die durch die Corona-Einbußen geschwächt sind, ihre Wirtschaftskraft wieder neu aufbauen und möglicherweise erst einmal die Kräfte wiedereinstellen wollen, die sie während der Pandemie entlassen mussten. Auch die Auszubildenden, die sie während der Pandemie mit Mühe gehalten haben, haben nun Anspruch auf eine Ausbildung, in der sie bestmöglich Kenntnisse im Betrieb und der Berufsschule vermittelt bekommen. Gibt man Betrieben und Unis ein Jahr zur Erholung, könnte die Betreuung Hinzukommender ab 2023 viel zuverlässiger gewährleistet sein.
Aber dann gibt es doch Stau in den Kindergärten?
Die überlasteten Kindergärten sind ein Problem. Sie müssten die „Großen” ebenfalls etwas länger betreuen. Damit die KiTas jeweils nur mit einem halben Jahrgang mehr belastet werden, müssten die Geburtsgrenzen für die Einschulungen im Januar 2022 und im September 2023 entsprechend angepasst werden. Durch die Schwankungen, die Geburten-Jahrgänge aber ohnehin mit sich bringen, bleibt der Kindergarten der Ort, an dem die Kinder im Regelfall das sechste Lebensjahr abschließen, bevor sie selbstständig die Zuckertüte tragen. Natürlich ist es zudem dringend nötig, dass Kindergärten wie Schulen tatkräftig staatlich unterstützt werden, damit sie personell optimal ausgestattet sind. Ohne finanzielle Mittel können die sozialen, psychologischen und inhaltlichen Rückstände nicht aufgeholt werden. Diese finanziellen Unterstützungen müssen mit der Schulzeitverlängerung einhergehen.
Können Kinder sich von der Schulzeitverlängerung befreien lassen?
Grundannahme der Schulzeitverlängerung ist, dass Bildung generell und die Zeit in der Einrichtung Schule sinnstiftend, charakterbildend und wertvoll ist. Trotzdem wird es Eltern geben, die das anders sehen, das Corona-Schuljahr in ihrem individuellen Fall als ausreichend bildend bewerten und einen Antrag darauf stellen, dass ihr Kind ein Schuljahr überspringen darf. Für diesen Fall müssen jedoch gleiche Standards gelten, wie bisher: Entsprechende Noten, Reife und Ambitionen, die die Lehrer:innen, Eltern und der:die betreffende Schüler:in glauben lassen, dass ein Verbleiben im Klassenverband ergebnislos und das „Springen” dringend notwendig sei.
Warum ist die Schulzeitverlängerung das beste Modell?
Weitere unter anderem im Deutschlandfunk zu hörende Vorschläge von Bildungsexpert:innen, wie “Nachhilfe in der Freizeit” oder die “Hinzunahme des Samstags als zusätzlichem Schultag”, liegen weit von der realistischen Mehrbelastung von Pädagog:innen entfernt. Lehrpersonen und Schüler:innen haben im vergangenen Schuljahr ohnehin großen Belastungen standhalten müssen, die sich durch ständig ändernde Hygienekozepte, Stundenpläne, Klassenmodelle und die Online-Beschulung ergeben haben. Gegenüber der Beibehaltung des derzeitigen Schuljahresablaufs bei dem Lösungskonzept der Schulzeitverlängerung erscheinen andere Ideenentwürfe aufgrund ihrer Kompliziertheit, ihrer Bagatellisierung des entstandenen Problems auf Schüler:innenseite, aber auch aufgrund der Ignoranz gegenüber dem herrschenden Personalmangel im Bildungsbereich realitätsfern. Staatlich finanzierte Nachhilfe und die Rücksichtnahme auf pandemiebedingte Bildungslücken bei den Schüler:innen in der Benotung und bei der Erreichung des Klassenziels können nur zusätzlich zu ernsthaften und umfassenden Maßnahmen wirken.
Die Ausgestaltung der Schulzeitverlängerung im Detail kann und muss selbstverständlich weiterhin diskutiert werden. Für uns steht allerdings fest, dass Nichts-Tun keine Option ist!