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+++ Blog +++ Das Schweigen der Fundamentalist*innen

Wenn Gruppen die “sittenbildende Kraft der Religion” schwinden sehen, in ihren Gegner*innen “teuflische Züge” wahrnehmen und ihre Briefe “Mit einem herzlichen Gott befohlen grüßt Sie” beenden, deutet das klar auf seine Sache hin: christlicher Fundamentalismus. Und um diesen mit eigenen Augen zu sehen, müssen wir gar nicht in die USA fliegen. Es reicht schon, wenn wir in das Auto oder in die Bahn steigen und z.B. ins Erzgebirge fahren.

In dieser Region, wo selbst nach 40 Jahren staatlich verordnetem DDR-Atheismus der Einfluss der Kirche und die christliche Verwurzelung der Menschen ungebrochen blieb, erleben evangelikale Freikirchen seit der Wiedervereinigung einen immer größeren Zulauf. Kennzeichnend für diese sind eine wortgetreue Auslegung der Bibel sowie strenge konservative Moral- und Gesellschaftsvorstellungen. Doch sie wollen nicht nur ihr eigenes Leben an diesen tradierten Werten ausrichten, sondern sie betreiben auch aktive Missionsarbeit, um der Gesellschaft ihre Stempel aufzudrücken. Und dafür organisieren sie sich, mal unter dem Deckmantel der Zivilgesellschaft, mal ganz offen politisch.

Ein Beispiel dafür sind die “Christdemokraten für das Leben” (kurz CDL), eine Organisation innerhalb der CDU/CSU, welche 1985 gegründet worden ist. Heute verfügen sie neben einem Bundesverband auch über 10 Dependancen auf Länderebene, wobei Sachsen (neben Berlin) die einzige in Ostdeutschland ist. Hierbei gibt es auch zwei Kreisverbände, die sich in Dresden und (Überraschung!) im Erzgebirge finden lassen.

Das selbst gesteckte Arbeitsfeld des CDL ist schnell erkannt: so kämpfen die selbsternannten “Lebensschützer” gegen Abtreibung, Sterbehilfe, Gentechnologie im Allgemeinen und die Fortpflanzungsmedizin im Speziellen. Den Grund findet man in ihrer radikalen Auslegung des christlichen Glaubens. Die Menschen sind Ebenbilder Gottes und Menschenwürde rührt, nach ihrer Logik, allein von dieser Tatsache her. Mit einem humanistischen, aufgeklärten und säkularisierten Menschenbild hat dies relativ wenig bis gar nichts zu tun. Und wegen dieser “Gottesebenbildlichkeit” ist jeder “Eingriff” in das menschliche Leben Sünde, oder, moderner ausgedrückt, moralisch und ethisch nicht vertretbar. Was dabei komplett auf der Strecke bleibt, ist das Selbstbestimmungsrecht des Menschen.

Argumentativ bedienen sie sich einer ziemlich breiten Palette. So werden naturwissenschaftliche mit theologischen Argumenten vermischt, wenn “biologische Zusammenhänge bei der Entstehung von menschlichem Leben” im gleichen Satz wie die Charakterisierung des Menschen als “Leib-Seele-Wesens” genannt werden. Auch wird vor den Folgen des “Post-Abortion-Syndroms” bei Frauen gewarnt, einer Diagnose, die weder bei der Weltgesundheitsorganisation gelistet noch medizinisch anerkannt ist. An wieder anderer Stelle wird dann die Pille danach als Lifestyle-Produkt verteufelt und man wittert die Pharma-Lobby hinter alledem.

Die Stoßrichtung solcher Argumente ist dabei immer die Gleiche: es läuft etwas schief in unserer Gesellschaft. Der Bedeutungsrückgang des christlichen Glaubens wird mit Sittenverfall assoziiert, den es partout zu bekämpfen gilt. Emanzipation und rechtliche Liberalisierung werden als Feinde einer streng Bibel-orientierten Lebensweise gesehen, welche es zu verhindern oder sogar rückgängig zu machen gilt. Neben der Beeinflussung der öffentlichen Meinung, welches ein erklärtes Ziel des CDL ist, sehen sie den Druck auf das politische System als eine ihrer Hauptaufgaben. Denn durch “eine Verschärfung der geltenden strafrechtlichen Regelungen” soll das Unrechtsbewusstsein der Menschen und somit auch die allgemeine Moral innerhalb der Gesellschaft „verbessert“ werden. Law and Order also, statt Empathie und Nächstenliebe. Auch gilt es, das Rollenbild und das Selbstverständnis der Frau innerhalb unserer Gesellschaft wieder „gerade zu rücken“. Wörtlich heißt es im CDL-Grundsatzprogramm:

Selbstverwirklichung, Sinn also für das eigene Leben, liegt gerade in der Arbeit der Mutter und Erzieherin, die ihrer Familie Geborgenheit, Gelassenheit, Lebensfreude und Zärtlichkeit vermittelt, die ihre Kinder zu lebenstüchtigen Menschen erzieht, die in ihrer Mutter einen Ansprechpartner für ihre Fragen finden.”

ein Familienbild also, welches sich in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, wenn nicht sogar davor verorten lässt.

Ein Weg, ihre Forderungen an die Öffentlichkeit und Politik heranzutragen, sind Schweigemärsche, welche seit einigen Jahren in verschiedenen deutschen Städten stattfinden. Neben Berlin, München, Münster und Fulda finden sie auch in Annaberg-Buchholz statt, einer Stadt mit 20.000 Einwohner*innen im Erzgebirge. Seit 2010 finden dort jedes Jahr sogenannte “Schweigemärsche für das Leben” statt, an denen mehrere hundert Menschen teilnehmen. Unterstützung erhalten die Organisator*innen der CDL dabei auch von bekannten Politikern wie Steffen Flath, der u.a. Umwelt- und Kultusminister sowie Fraktionsvorsitzender der CDU in Sachsen war.

Die Vorgehensweise bei den Märschen ist dabei immer die Gleiche. Mit Slogans wie “Schweigemarsch für das Leben – Hilfe zum Leben, statt Hilfe zum Töten” soll der Eindruck geweckt werden, es gehe um die Rechte “ungeborener Kinder, Alter und Kranker”. In Wirklichkeit geht es aber gerade um den Abbau von Rechten. So soll den Menschen die Möglichkeit genommen werden, selbst über das eigene Leben und den eigenen Körper bestimmen zu können. Unter dem Deckmantel des vermeintlichen “Lebensschutzes” wird gegen Rechte und emanzipatorische Freiheiten vorgegangen, für die Feminist*innen jahrzehntelang gekämpft haben.

Warum auf den Märschen geschwiegen wird, bleibt dabei zunächst schleierhaft. So wird zwar behauptet, für etwas zu demonstrieren, doch ist die Bejahung eigentlich ein Akt, welcher von anderen wahrgenommen werden muss, damit er seine Bedeutung entfalten kann. Doch betrachtet man gängige Argumentationsmuster, die z.B. auf eine Gleichsetzung von Schwangerschaftsabbrüchen und NS-Verbrechen zielen, offenbaren sich krudeste Vorstellungen und der eigentliche Sinn hinter den Märschen. So wird immer wieder von Mitgliedern des CDLs von einem “Baby-” oder “One-World-caust” gesprochen, welcher im Vergleich zum Holocaust schlimmer wäre, da die Zahl der legal abgetriebenen Kinder die Zahl der im NS-Regime ermordeten Juden bei Weitem übersteigen würde. Der Schweigemarsch entpuppt sich so schnell als eine Veranstaltung, welche versucht, durch Emotionalisierung und Faktenverdrehung christlich-fundamentalistische Ansichten in unserer Gesellschaft salon- und anschlussfähig zu machen. Und im Hinblick auf die wachsenden Teilnehmendenzahlen bei den Demonstrationen scheinen sie auch ein Stück weit damit Erfolg zu haben. So waren es 2014 rund 5000 Menschen, die in Berlin zusammen kamen, während 2015 in Anna-Berg-Buchholz mit ca. 550 Teilnehmenden ein neuer Spitzenwert für den kleinen Ort erreicht wurde.

Doch bleibt das “Schweigen” nicht ohne Antwort. So haben sich in den letzten Jahren verschiedene Netzwerke und Bündnisse gegründet, welche diese emanzipatorische Regression nicht hinnehmen wollen. Seit zwei Jahren organisiert deshalb das Netzwerk Pro Choice Sachsen die Proteste in Annaberg-Buchholz und versucht, die Öffentlichkeit über die radikal-religiösen Hintergründe der Forderungen zu informieren. So rief es auch dieses Jahr wieder zu Gegenkundgebungen am 01.06. auf, um den evangelikalen Aufmarsch Paroli zu bieten. Erfreulich ist dabei, dass sich die Zahl der Teilnehmenden an der Gegendemonstration im Vergleich zum Vorjahr auf rund 200 fast vervierfacht hat. Durch lautstarken Protest in Hör- und Sichtweite konnte zudem eindrucksvoll gezeigt werden, dass die fundamentalistischen Agitationen gegen das Selbstbestimmungsrecht nicht einfach hingenommen werden, sondern auf aktiven Widerstand stoßen.

Die Frage, die bleibt, ist, wie sich die Bewegung, die sich aus evangelikalen Christ*innen und national-konservativen Politiker*innen zusammensetzt, in den nächsten Jahren entwickeln wird. Im Hinblick auf den bisherigen Stand bleibt zu befürchten, dass ihr Zulauf auf absehbare Zeit nicht zurückgehen wird. Wir werden es also auch in Zukunft mit chauvinistisch-rückwärtsgewandten Forderungen zu tun haben, die das Rad der Zeit am liebsten komplett zurückdrehen würden. Doch bleibt auch die Hoffnung, dass der Widerstand wächst und ein breites Spektrum emanzipatorischer und feministischer Gruppen zeigt, dass in unserer heutigen Zeit christlicher Fundamentalismus nicht mehr den Ton angeben kann, wenn es um das Selbstbestimmungsrecht der Menschen geht.

Tobias Neidel, 02. Juni 2015